Dienstantritt in 126 Strausberg, PF 3116.

(Beitrag von Rainer K.)


Der erste Tag meines Wehrdienstes fing bereits komisch an: Im „Bereitstellungsraum“, in dem sich im Gebäude des Reichsbahnamtes die zum Wehrdienst einberufenen Jugendlichen zu sammeln hatten, erfolgte ein namentlicher Aufruf, und in Gruppen und Begleitung durch einen Offz. des Wehrkreiskommandos ging es auf die Bahnsteige des nahe gelegenen Bahnhofs, je nach Zielrichtung. Der Saal leerte sich, am Schluss saß ich noch allein in einer Bankreihe. In barschem Ton fragte mich einer der zivil gekleideten Herren, was ich noch wolle, und dumm, wie ich war, antwortete ich, dass man mich nicht aufgerufen habe. Ich hätte auch einfach gehen können, aber auf die Idee kam ich nicht.
Nach langem Studium der zahlreichen Listen fand man meinen Namen auf der Rückseite eines großen Blattes Papier. Dort stand, dass ich vorgesehen sei zum Dienstantritt in 126 Strausberg, PF 3116. Man erklärte mir, der Zug sei nun schon abgefahren, und ich müsse auf eigene Faust sehen, wie ich dorthin käme.



Nun, ich kam gegen 20 Uhr an. Nüchtern sogar. An der Wache musste man erst einmal beim OvD anrufen, um sicher zu sein, mich hereinlassen zu dürfen, denn auch dort stand ich auf keiner Liste…

Der OvD schickte mich in den Speisesaal, um noch ein Abendbrot empfangen zu können. Ich klopfte an das Schiebefenster zwischen Saal und Küche, und es öffnete sich, ein Gesicht schaute heraus, und es war mein Spielkamerad aus dem selben Ort einer angrenzenden Straße, Sigismund B. Unsere Wiedersehensfreude war groß, entsprechend nobel das Abendessen…
Wenn auf der Speisekarte „Hirschgulasch in Rotweinsoße“ geschrieben stand, stellte Sigismund die geöffnete Flasche Rotwein neben den Herd und die Geruchsmoleküle hatten Zeit, sich mit der Soße zu vermengen. Den Flascheninhalt leerten wir am Abend auf der Stube.


In den ersten Monaten, November bis März, waren wir in einem Zeltlager untergebracht. Wir schliefen auf Stroh, hatten hunderte Wolldecken und einen stets glühenden Kanonenofen in Regenfassgröße. Das Rohr ging durch eine Blechtafel im Zeltdach und war meistens am Glühen.

Die Ausbildung war erträglich und wurde ausschließlich von Ufw. Meyer, Fw. Köhler und Ultn. Schamedatus durchgeführt. Ab und zu war Politunterricht. Bei besonders heiklen Themen kam ein Politoffizier.

Während Ufw. Meyer sich zuweilen sehr volkstümlich zeigte und Anzeichen von Bereitschaft zu Verbrüderungen aufwies, war Fw. Köhler steif, streng und unnahbar. Markant war sein Schniefen mit zusammengekniffenen Lippen und nach unten hängendem Kinn, was im Falle seiner Erregung dem Gesicht eine ovale Form gab. Ich bestätige vollumfänglich die auf dieser Website geschriebene Charakteristik des Ultn. Schamedatus. Einen anderen Offizier, der ähnliche hervorragende fachliche und menschliche Qualitäten aufgewiesen hätte, konnte ich bis 1989 nicht mehr kennenlernen. Vor zwei Jahren telefonierte ich letztmalig mit ihm, und eine halbe Stunde lang tauschten wir unsere Erinnerungen aus. Er wirkte verständlicher Weise stark „angefressen“ von den Erscheinungen, die mit der Übernahme der DDR-Offiziere in die Bundeswehr verbunden waren.


Ich wurde auserwählt, im Stab meinen Dienst zu leisten. Man setzte mich zu Hauptmann Hunger zu Org./Auffüllung, quasi zur Personalabteilung des Regiments. Meine Aufgaben waren die Überprüfungen und Zusammenfassungen der täglichen Stärkemeldungen der Kompanien und allgemeiner Bürokram incl. Schreibmaschinenbedienung.

Wehrdienstausweis mit der Unterschrift Hunger

Seine Sekretärin, Frau Zivilbeschäftigte Hobusch, war mütterlich um Hptm. Hunger und mich besorgt und hielt stets heißen Kaffee und Gebäck bereit. Mit ihrem Ehemann, Stfw. Hunger, fuhr ich mehrere Rallyes mit einem NVA-PKW der Marke Wartburg 353 unter dem Logo des ASV.


Reitgerte

Stabschef im Regiment war ein Major Kairies, der im allgemeinen als scharfer Hund bekannt war. Erstaunlicher Weise hatte man ihm erlaubt, eine Reitgerte zu tragen, mit der er sich ab und zu gegen seine blankgewienerten Stiefelschäfte schlug. Ich sah ihn meistens nur bei Kontrollen der Ausbildung.


Regimentskommandeur war Oberstleutnant Taube. Ein sehr verträglicher Chef mit einem hoch entwickelten Gerechtigkeitssinn. Taube hatte keine überspitzten Allüren. Ich hatte ihn niemals brüllen gehört, auch dann nicht, wenn es die Situation erlaubt hätte. Den Büro-Kaffee zahlte er aus eigener Tasche. In seinem Vorzimmer saßen zwei wunderschöne Sekretärinnen, mit denen ich öfter zu tun hatte.

Stfw. Jeromin war so freundlich, uns im Kfz.-Park die Ministerfahrzeuge zu erklären. Er war bei Paraden einer der zwei Fahrer, die den Minister und den Kommandierenden der Parade zu fahren hatten.


Bei den Umstellungen auf eine wechselnde Nutzungsperiode (VNP) wurden die Kfz. inspiziert, und wenn die Inspektoren, alles Offiziere aus dem MfNV, von denen die meisten weniger Ahnung hatten als unsere Schirrmeister im Unteroffiziersdienstgrad, mit dem ersten LKW fertig waren, wurden aus ihm die Akkumulatoren ausgebaut und in den fünften LKW eingebaut, die vom zweiten in den sechsten und so weiter….
Die Akkumulatoren reichten nicht für alle…


Besonders einprägsame und folgenreiche Ereignisse geschahen in den Tagen vor, während und nach dem 21.08.1968. Auf dem Kfz.-Park wurden am 20.08.1968 Runde um Runde die W 50 angeschleppt, die wochen- und monatelang im Gefechtspark nicht bewegt worden sind. Niemand wusste, warum. Cirka 50 Prozent ist aus eigener Kraft gestartet, die andere Hälfte brauchte ein Anschleppen. Hauptsache, die Schmiernippel waren mit roter Farbe markiert. Erst am Morgen des 21. wurden wir informiert. Der Personalbestand lief danach voll bewaffnet und aufmunitioniert herum und hatte sogar in den Zimmern die Kalaschnikow am Haken hängen. Auffällig war, wie weich und zuvorkommend in dieser Zeit der Umgangston der Offiziere im Gespräch mit Dienstgradniederen gewesen ist.


Im großen Saal fand am 22.08.1968 eine Versammlung statt, an der der gesamte Personalbestand teilzunehmen hatte. Durchführende waren Offiziere der Politischen Hauptverwaltung des MfNV, die auf der Bühne saßen und die Anwesenden zunächst informierten über den „Hilferuf“ der tschechoslowakischen Genossen an die Sowjetunion, dem zufolge die Bruderarmeen herbeigeeilt kamen und die „Ordnung“ wiederherstellten. Natürlich handelte es sich um eine von den Imperialisten angezettelte Konterrevolution…

Nach dem informierenden Vortrag wurde um Wortmeldungen gebeten. Es wurde ausdrücklich zugesichert, jeder dürfe frei und ohne Hemmungen seine Auffassungen zum Einmarsch der Bruderarmeen darlegen. Außer den vorher instruierten, sich zu Wort meldenden Genossen hatte auch ein nicht auf dem Zettel des Präsidiums stehender Genosse Unterleutnant (es war nicht unser Schamedatus !) eine Wortmeldung. Er kritisierte den Einmarsch der Bruderarmeen und vertrat den Standpunkt, es sei Sache des tschechoslowakischen Volkes, über sein Regierungssystem zu entscheiden. Niemand habe das Recht, von außen einem anderen Staat vorzuschreiben, wie und von wem es regiert werden wolle.
Man bedankte sich für den Redebeitrag und forderte zu weiteren Wortmeldungen auf.
Es gab keine mehr, die Versammlung wurde beendet.


In der folgenden Nacht wurde ich um 1.30 Uhr von GOvD geweckt und aufgefordert, in mein Büro zu gehen, ich würde bereits erwartet. Dort war Hptm. Hunger und forderte mich auf, nach Diktat in die Schreibmaschine einen Ministerbefehl zu tippen. Dafür waren DIN-A-4-Blätter in einer extra Qualität zu verwenden. Auch die Blatteinteilung war vorgeschrieben.
Diktiert wurde mir ein Entlassungsbefehl. Entlassen wurde mit sofortiger Wirkung in Unehren und im Dienstgrad Soldat der ehemalige Unterleutnant, der den nicht zuvor zensierten Redebeitrag geleistet hatte.

Soviel zu der zugesicherten freien Meinungsäußerung …
Das alles gab meinen Verständnis von Vertrauen zu Partei und Regierung einen lebenslangen Knacks.
Im Frühjahr 1969 stellte ich den Antrag auf Entpflichtung von der Ableistung meiner vorgesehenen Dienstzeit. Dem Antrag wurde stattgegeben, am 05.05.1969 begann ich in meiner Heimatstadt als Kraftfahrer zu arbeiten. Bis 1989 wurde ich regelmäßig zu Reservistenlehrgängen einberufen, aus denen ich im Offiziersdienstgrad entlassen wurde.

Rainer K.